für Julia Fügenschuh & Christof Hrdlovics
2012-2015, Innsbruck, Österreich
Publikation
Mole #14
Aus Stalingrad mach Neu
Ein tiefrussischer Kriegsschauplatz hat einen Ableger in Innsbruck. Das Grätzel rund um die Premstraße – zwischen Südring und Ostfriedhof im Stadtteil Pradl gelegen – war und ist im Volksmund als „Stalingrad“ bekannt. Nun werden zwei direkt in der Premstraße gelegene Wohnbauten durch zeitgemäße ersetzt – Stalingrad wird umgekrempelt.
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Innsbrucks Stadtarchiv verrät nur wenig über die zwei langgezogenen Wohnhäuser, welche die Pradler Premstraße jahrzehntelang säumten und prägten. Errichtet wurden sie als letzte einer ausgedehnten Bauentwicklungsphase, die in den 1920er-Jahren begonnen hatte. Zwischen Konradkaserne und dem damals neuen Ostfriedhof lag seinerzeit ein berüchtigtes Viertel.
Die Stadt erklärte das Gebiet zu einem Experimentierfeld des sozialen Wohnbaus. In den folgenden Jahren sollte es in vier Abschnitten bebaut und so Wohnraum für die Armen der Stadt geschaffen werden. Zuerst entstanden die ersten Reihenhäuser Innsbrucks. Ab 1927 wurden diese aus selbstgebrannten Koksschlackeziegeln von den künftigen BewohnerInnen hochgezogen. Ab 1929 folgte der Kaufmannblock. Die Architekten Lawatsch und Albert verzichteten auf die übliche Blockrandbebauung und lehnten ihre freistehenden Wohnbauten gestalterisch an den internationalen Stil an. Streng symmetrisch, ursprünglich mit Holzkastenfenstern ausgeführt, stellen sie in baulicher Hinsicht das Glanzstück von Stalingrad dar. 1935 folgte der namensgebende Bauteil – die von Theodor Prachensky errichteten und später als Stalingrad bekannt gewordenen Bauteile. Laut Überlieferungen sollen diese Bauten nach dem Zweiten Weltkrieg zeitweise als Lazarett für Kriegsheimkehrer gedient haben. Daher kommt auch die markante Bezeichnung. Prachensky konnte den für die Bebauung des Grundstückes ausgeschriebenen Wettbewerb zwar nicht gewinnen, sein zweitgereihter Entwurf wurde trotzdem zur Realisierung freigegeben.
Brot und Arbeit
Die Finalisierung des städtebaulichen Großprojektes fand ihren Abschluss 1938/39. Mit dem vorrangigen Ziel 200 Männer für ein halbes Jahr mit Brot und Arbeit zu versorgen, wurden entlang der Premstraße zwei ebenso langgezogene wie uninspirierte Wohnbauten Realität. Straßenseitig drängten sich die Baukörper, auf der Rückseite machten sie dadurch Platz für vergleichsweise großzügige Grünflächen. Die dreistöckigen Bauwerke beherbergten unzählige Kleinwohnungen. Im Keller gab es Waschküchen zur gemeinschaftlichen Nutzung. Jede Wohnung verfügte über eine Loggia. Diese wurde später in den meisten Fällen mit einem Bad gefüllt. Ein solches war im ursprünglichen Grundriss nämlich nicht vorgesehen. Auch wer heizen wollte, musste sich selbst helfen, Zentralheizung gab es keine.
Die Fassade war mit hellgrauem Putz überzogen. Auf diesem prangten, im Übrigen bis zum Abriss der Riegel in den Jahren 2012 und 2013, riesengroße Pfeile. Sie markierten die Zugänge zu den hauseigenen Luftschutzkellern.
Beinahe unzählige, zum Teil schauderhafte Geschichten sollen sich in und um die beiden Bauten herum abgespielt haben. Von den wenigen verbliebenen BewohnerInnen mag niemand darüber sprechen – wohl zu Recht. Einer der Bauten beherbergte ein Bordell. Dieses zog natürlich auch halbseidene Persönlichkeiten mit durchaus brachialer Lösungskompetenz an. Geschossen wurde auf dem Hof sowieso immer wieder. Wahrscheinlich auch deshalb kam es regelmäßig zu gröberen Einsätzen der Kobra und diverser Vorgängerorganisationen. In den Kellerräumen soll es zudem eine illegal betriebene Selch gegeben haben. Dort soll es auch zu versuchten und gelungenen Suiziden gekommen sein. Stalingrads Ruf war so schlecht, dass es sogar Stromablesern der Stadtwerke untersagt war, dort alleine Zählerstände abzulesen.
Spätestens in der Hauptschule bekamen die „Stalingrad-Kinder“ ihre Herkunft zu spüren. Sie wurden, zu Recht oder zu Unrecht, als Teil der Unterschicht abgestempelt, wurden gehänselt und waren möglicherweise auch deshalb oft in Schlägereien verwickelt. Wohl auch in Folge einschlägiger Erfahrungen verzichteten viele darauf, in Bewerbungsschreiben ihre Wohnadresse anzugeben.
Im Allgemeinen hatten die Zustände vermutlich auch mit der von Anfang an einseitigen Mieter-Zuteilung durch die Betreibergesellschaft zu tun. So kamen viele MieterInnen aus der Bock-Siedlung und den Vorgänger-Siedlungen von Stalingrad. Menschen also, auf die seit jeher herabgeschaut wurde, die bildungsfern waren und sich am Rande der Gesellschaft selbst ums Überleben kümmern mussten. Hinzu kamen überdurchschnittlich viele Kriegsheimkehrer, oft schwer traumatisiert. Im Laufe der Jahre wurden die Wohnräume stark in Mitleidenschaft gezogen. Man hätte mit Investitionen gegensteuern können. Darauf wurde jedoch verzichtet und so drehte sich die Spirale weiter nach unten bis Stalingrad im Großen und Ganzen als Abstellgleis für Randexistenzen verwendet wurde, sehr zum Leidwesen derer, die in Ruhe leben wollten und schlicht nicht über das Kapital verfügten, sich woanders eine Bleibe zu mieten.
Das Leben in der Premstraße hatte aber auch gute Seiten. Innerhalb der Bewohnerschaft half man sich jederzeit und gerne, auch weil ein ausgeprägtes Gefühl von Zusammengehörigkeit vorhanden war – man saß im selben Boot. Es gab immer viele Kinder, die stets gemeinsam um die Häuser zogen. Neben dem der Siedlung vorauseilenden Ruf existierten wohl auch Freude und herzerwärmendes Gelächter.
Neubau als Neubeginn
In der Premstraße werden seit Monaten maßgebliche Veränderungen umgesetzt. Leistbarer Wohnraum ist in Innsbruck trotz zahlreicher Wohnbaurealisierungen in den vergangenen Jahren nach wie vor knapp. Mit der Erneuerung der zwei Premstraßen-Riegel schafft die Innsbrucker Immobilien Gesellschaft, kurz IIG, zusätzlichen und vor allem hochwertigeren Wohnraum. 2009 schrieb sie einen Architekturwettbewerb aus, den das in Zirl ansässige Architekturbüro von Julia Fügenschuh und Christof Hrdlovics für sich entscheiden konnte. Seit Herbst 2011 wird der Entwurf in insgesamt drei Bauabschnitten ausgeführt. Mittlerweile sind zwei Drittel der Anlage realisiert, bewohnt werden die ersten fertiggestellten Bauteile seit Winter 2012.
Die der Amraser Straße zugewandte Hälfte der Premstraße ist eine Einbahnstraße und gilt somit als verkehrsberuhigte Zone. Dies nimmt der Bau von Fügenschuh Hrdlovics auf. Der Baukörper südlich der Premstraße ist bereits fertiggestellt und wird seit Monaten bewohnt. Wie sein Vorgänger steht er relativ nahe an der Straße. Besucher verschaffen sich direkt von dort aus Zutritt. Die Eingangssituation ermöglicht das barrierefreie Durchschreiten der Wohnanlage. So gelangt man direkt und unkompliziert in den halböffentlichen Grünbereich. Von hier kann man das dem Bau zugrundeliegende Konzept direkt erkennen. Sämtliche Wohnungen orientieren sich Richtung Süden. Jeder Einheit ist entweder eine Loggia oder ein kleiner Garten zugeordnet, das ist auch für Nordtiroler Wohnbauten untypisch lebensbejahend und sehr vorbildlich. Für die meisten BewohnerInnen stellt allein dies eine wesentliche Verbesserung der Wohnsituation dar. Bei längerer Beobachtung der Situation lässt sich die kommunikationsfördernde Wirkung dieser Maßnahme erkennen – munteres Wort-Pingpong zwischen Spielplatz und Balkon. Die Tatsache, dass der Großteil des Bauwerkes nur über zwei Obergeschosse verfügt und somit, dank Flachdach, stellenweise sogar niedriger ausfällt als sein Vorgänger, erleichtert den Austausch von Klatsch und Tratsch zwischen Erde und Balkon zusätzlich. Man ist sich nah, man kennt sich. Auch die teilweise sehr nah angrenzenden Nachbarhäuser bedanken sich – so werden sie und ihre BewohnerInnen nicht vom neuen Nachbarbau erschlagen. Gewissermaßen duckt sich dieser demütig. Ein cleverer Mix aus trennenden Wänden und purer Offenheit prägt die Gestaltung der Balkone. Das wird durch dünne, aus Beton gegossene Wandscheiben möglich. So können die BewohnerInnen der neuen Premstraßenzeile frei entscheiden, ob sie gesehen werden wollen oder nicht.
Tritt man zurück in das Gebäude und lässt sich dort treiben, fällt eines auf: Die der Erschließung dienenden Bereiche sind hell, großzügig und mit Ausblick (Richtung Nordkette) ausgeführt. Im Gegensatz zu vielen anderen Erschließungssituationen, welche oft durchaus in der Lage wären klaustrophobische Zustände auszulösen, hält man sich hier sehr gerne auf. So setzt sich das Konzept von Fügenschuh Hrdlovics konsequent fort. Die Anlage sagt der in Wohnblöcken üblicherweise vorherrschenden Anonymität ganz offensichtlich den Kampf an.
Der Bau bietet Wohnungen verschiedener Größe und Grundrisskonfiguration an. Eine Mischung von Zwei-, Drei- und Vierzimmerwohnungen ist die Voraussetzung für eine durchmischte Besiedlung der Anlage. So soll einer zu einseitigen Besiedlung, wie bei den Vorgängerbauten zweifelsohne vorhanden, vorgebeugt werden.
In den nächsten Monaten werden auch die noch in Bau befindlichen Teile der neuen Wohnanlage, der nördliche Langbau, fertiggestellt und besiedelt. Dann wird die Premstraße die Vergleiche mit Stalingrad hinter sich lassen und hoffentlich ebenso bunt wie fröhlich in die Zukunft schreiten. (Text für Mole#14/2014)