Ein Blick hinter den Vorhang
Bis Anfang der 1990er Jahre war der Platzspitz in Zürich ein Drogen-Hotspot. Mit der Revitalisierung und Erweiterung des Landesmuseums durch das Architektenduo Christ & Gantenbein schließt die Transformation der ehemaligen Problemzone zum Erholungsbereich nun vorerst ab. [ weiter ]
Eine offene Drogenszene entwickelte sich ab 1986 zu einer klaffenden Wunde direkt am Zürcher Hauptbahnhof. Täglich waren hier 3000 süchtige Menschen zu Gast. Vorerst von Polizei und Behörden toleriert, kam es 1992 zu einer unkontrollierten Schließung des „Needle-Park“. Da die Stadt nicht auf die Räumung des zwischen den Flüssen Limmat und Sihl gelegenen Platzspitzpark vorbereitet war, wurde das Problem vorerst nur in andere Stadtteile verschoben.
Die Gegend um das Landesmuseum wurde zum Symbol dafür, dass weder Toleranz noch Repression im Stande sind, das Drogenproblem einer Stadt zu lösen. Betritt man heute via Zürich Hauptbahnhof die Stadt, so wie es Tag für Tag 400000 Menschen tun, erinnert wenig an die herben Zeiten. Empfangen wird man von einem burgähnlichen Bau – das Landesmuseum ist dem Schweizer Architekten Gustav Gull und dem späten 19. Jahrhundert zuzuordnen.
Als unachtsamer Besucher mag man bis zum Betreten des Museums wenig von der baulichen Umgestaltung und Erweiterung mitbekommen haben – von der Bahnhofsseite gesehen versteckt sich das Neue hinter dem Alten. Spätestens im Inneren des Altbaus spürt man, dass hier dezent am Bestand gefeilt wurde. Fein ausgeführtes Mobiliar garniert den großzügig gestalteten Empfangsbereich und das Museumskaffee. Der Altbau ist ein sehr nach innen gekehrter Museumsbau – Raum folgt auf Raum, Schaustück auf Schaustück.
Verantwortlich für Revitalisierung und Erweiterung ist das Baseler Architektenduo Emanuel Christ und Christoph Gantenbein. Dann gleitet man als Besucher in den Neubau hinüber. Dort wartet ein gänzlich anderes Museum. Altbekannte Raumkonfigurationen sucht man hier vergebens. Ein haptisch an Industrieanlagen erinnerndes Raumkontinuum zieht den Besucherstrom nach links, nach rechts, nach oben, nach hinten. So ganz genau weiß niemand, wohin die Reise geht. Hohe, trichterförmige Räume lassen spannende Ausstellungskonfigurationen und unerwartete Durchblicke zu.
Dem Umstand, dass „das Fenster der natürliche Feind des Ausstellungsmachers“ sei (Zitat Christ), setzt das Architektenduo kreisrunde Bullaugen entgegen. Entschließt sich der Besucher, die mehr als umfassende Sammlung zur Geschichte der Schweiz Richtung Platzspitzpark zu verlassen, so kann man das durch einen neu geschaffenen Innenhof tun. Alt- und Neubau bilden hier eine Klammer. Die Tuff-Betonwände des Neuen kommen immer wieder sehr nahe an den aus Stein geformten Altbau heran. Um unmittelbar darauf wieder Abstand zu gewinnen. Kann man sich vom Charme der hier entstandenen Gebäudepaarung lösen, entfernt man sich weit in den Park hinein, so verschwindet das Alte hinter dem Neuen. Und man erkennt aus der Weite einen Baukörper der ein Auf und Ab symbolisiert. So als ob dieser, wie ein angehobener Vorhang, einen Blick in die bewegte Vergangenheit seines Standortes freigeben möchte.
(Text für 20er 05/2017)