für Martin Scharfetter & Robert Rier
2014, Inzing, Österreich
Publikation
Zement & Beton 4_15
Auszeichnungen für das Bauwerk
2015, Nominierung ZV Bauherrenpreis
2014, Auszeichnung des Landes Tirol für Neues Bauen
Von Kindern und Torten
Das kürzlich in Inzing eröffnete „Haus der Kinder“, vom Innsbrucker Architektenduo Robert Rier und Martin Scharfetter erdacht, bereichert nicht nur Kinderleben. Es ergänzt die Gemeinde um zahlreiche, auch für erwachsene Menschen spannende, Facetten.
[ weiter ]
Inzing – hier hat man über weite Strecken das Gefühl, sich in einem Idyll zu bewegen. Alte Bauernhöfe im Ortszentrum, verwachsene Hinterhöfe und jede Menge Kinder. Klein und groß, traurig und lustig, weinend und lachend. Fast könnte einen das Gefühl ereilen, schon lange nicht mehr soviel Nachwuchs auf einmal gesehen zu haben. Eben das kann Amtsleiter Josef Draxl nicht bestätigen: „Vielleicht liegen wir über dem österreichischen Schnitt von 1,42 Kindern je Frau, gefühlt sind es zwei. Genaueres weiß nur die Statistik.“
Auf Google Maps versucht man vergeblich, das Haus der Kinder zu finden, wird man nicht fündig. Die Luftaufnahme zeigt eine historische Situation, nämlich jene, die die am Architekturwettbewerb teilnehmenden ArchitektInnen in Inzing vorfanden: einen Parkplatz und zwei baufällige Gebäude. All dies in direkter Nachbarschaft zu Widum, Friedhof und Pfarrkirche. Auch das architekturaffinen Menschen durchaus bekannte Gemeindeamt von Erich Gutmorgeth, 1998 entstanden, grenzt an das Grundstück an. Der Bauplatz im Ortszentrum wurde von der Gemeinde 2011 erworben – ohne einen speziellen Bedarf dafür zu haben. Es sollte gesichert sein, dass die Entwicklung der Ortsmitte im Gemeindeamt und nicht in den Büros von ImmobilienentwicklerInnen entschieden wird.
Schon 2012, also ein Jahr später, ergab sich ein mögliches Bebauungsszenario. Kinderkrippe und Kindergarten platzten aus allen Nähten. Es entstand die Idee, die erstandenen Liegenschaften in ein Haus für Kinder zu verwandeln. So entschied man sich in Inzing einen Architekturwettbewerb zur Erweiterung des Kindergartens auszuloben.
Den Wettbewerb konnten die in Innsbruck sesshaften Architekten Robert Rier und Martin Scharfetter für sich entscheiden. Die Jury begründete dies unter anderem mit der „städtebaulichen Situierung des Baukörpers und den daraus resultierenden Freiräumen“.
Dezent, zurückhaltend.
Gemeint ist damit die Tatsache, dass es sich Rier und Scharfetter zur Aufgabe machten, dem Projekt einen Mehrwert zu verleihen. Inzing sollte auch eine Ortsmitte, einen Dorfplatz, bekommen. Bis dato musste die Gemeinde ohne einen solchen auskommen.
„Die Geometrie des Hauses entwickelt sich aus der unmittelbaren Umgebung, nimmt sich gegenüber Vorhandenem zurück, stellt aus, engt ein, bildet eine Gasse, öffnet sich“ – eben so beschreiben die beiden Architekten die letztlich realisierte Form und Anmutung des Baukörpers. Dieser schreit nicht. Er hält sich zurück und lässt so den Anschein entstehen, schon immer gewesen zu sein. Sehr präzise platzierte, kaum auffallende Farbelemente markieren die Garageneinfahrt und die aus dem zweiten Obergeschoß geschnittene Terrasse. Zum Gutteil besteht die Oberfläche aus weiß gestrichenem Putz.
Die Entscheidung, die von der Gemeinde geforderten Räumlichkeiten auf Erdgeschoss und zwei Obergeschosse aufzuteilen, lässt rund um das Gebäude wesentlich mehr Freiraum entstehen. An den räumlichen und atmosphärischen Qualitäten dieser gewonnenen Fläche hat das Duo lange gefeilt. Ein schlichtes Kopfsteinpflaster überzieht heute Kirchplatz und Kirchgasse. Und hängt so den Neubau an das vorhandene Gebäudeensemble an. Ein großer Laubbaum markiert den Übergang zwischen Platz und Gasse und spendet einem kleinen Brunnen Schatten. Dieser lädt Kinder erfolgreich zum Pritscheln ein. Blickt man an einem Sonnentag vom direkt an den Platz angrenzenden Friedhof auf das Haus, so fällt eines auf: auf dezentem Mobiliar macht sich die bunte Kundschaft des „s’10er“ breit. Das Kaffeehaus wurde in das Erdgeschoss des Hauses integriert und erfreut die ganze Gemeinde. Endlich gibt es einen stilvollen Ort um Klatsch und Tratsch zu tauschen oder bei Espresso und Apfelkuchen auf den Nachwuchs zu warten. Der direkt vom Platz erreichbare Hauptraum des nach der Hausnummer benannten Lokals besticht mit seiner ausgeprägten Reduziertheit. Diese geht aus einer Zusammenarbeit von Farbgestalterin Monika Heiss und dem Architekturbüro hervor. Im Farbton „Paynes Blau“, ein edles Blaugrau, gestrichene Wände, dunkles Mobiliar und auf Kuchenvitrine und Tische gelenkte Lichtpunkte laden ein, zu entspannen. Direkt an der Kirchgasse, neben dem Eingang zum Kaffeehaus, liegt auch der Haupteingang zum Haus der Kinder. Tritt man ein, so findet man sich im Foyer eines Mehrzweckraumes wieder. Dieser funktioniert zum einen als Turnsaal für die Kindergruppen. Zum anderen, und deshalb ist er direkt von der Kirchgasse aus erreichbar, dient er als Raum für die Gemeinde. Vorträge, Lesungen und Ähnliches gehen hier künftig über die Bühne.
Aus den Sichtbetonwänden schiebt sich eine hellrote Wandscheibe – sie markiert den Aufgang zu den höher gelegenen Geschossen. Dort angekommen, kann man die klare Grundrissstruktur erkennen: an den Gebäudeenden liegen die Gruppenräume, dazwischen, und somit nahe an der Erschließung, die Bereiche mit allgemeinerem Charakter. Im Fall des ersten Obergeschosses ist dies ein großzügiger Pausenbereich. Hier gibt es, bei entsprechendem Bedarf, ein Mittagessen für die Kinder. Zu Hellrot und Sichtbeton gesellen sich drei neue Farben: Schwarz, Hellblau und ein helles Hellblau. Formen und Farben kommen ungezwungen und stimmig zusammen. Und werden durch aus hellem Holz gefertigte Wand- und Türelemente und zierliche Kindermöbel ergänzt.
Direkt über dem Speisesaal liegt die Dachterrasse. Diese wurde aus dem zweiten Obergeschoss geschnitten und bietet den Gruppen Luftraum (und Aussicht auf die Hohe Munde), ohne das Gebäude zu verlassen. Ein noch kleines Bäumchen wird irgendwann zu beachtlicher Größe herangewachsen sein und kräftig Schatten spenden. Zu den schon bekannten Farben mischt sich nun, durch die Terrassenverglasung leuchtend: Gelb. Die Terrasse hat neben den schon beschriebenen Qualitäten den positiven Effekt, die Gebäudehöhe an einer kritischen Stelle zu entschärfen. So können sich die besonders nahen Nachbarhäuser nach wie vor über Licht und Sonne freuen.
Abgerundet wird das Raumangebot im zweiten Obergeschoss durch zusätzliche Gruppenräume. In diesen finden sich, wie auch in jenen der darunter liegenden Ebene, schlichte und auf die Bedürfnisse zugeschnittene Möbel aus hellem Holz. Auch beeindruckende Ausblicke auf die dörfliche und ländliche Umgebung werden ermöglicht. Die Kinderstube als Aussichtsturm – von hier kann man alltägliche Dorfgeschichten wunderbar beobachten.
Gute Aussichten
„Es hat sich herumgesprochen, dass wir in Inzing ein gutes Angebot für Kinder haben“, weist man im Inzinger Gemeindeamt auf die steigende Zahl von Menschen mit Hauptwohnsitz hin. Die Gruppenräume sind ab Herbst voll belegt und so muss man den Zuzug möglicherweise sogar etwas bremsen.
In Folge von kurzsichtigem, oftmals gar stupidem, Umgang mit Bausubstanz und historischen Ortskernen, findet man in Nordtirol sehr selten einladende Ortszentren. Oft gab ihnen die finale Abwertung durch ein außerorts angesiedeltes Fachmarktzentrum den Rest.
Mit dem Inzinger Haus der Kinder und seiner Kombination mit dem neuen Kirchplatz schufen Robert Rier und Martin Scharfetter einen Ort mit viel Atmosphäre. Sie formten die angrenzende Kirche samt Friedhof, das bisher hinter einer Wand versteckte Widum, das Gemeindeamt und die nähere Umgebung des Ensembles zu einer Einheit. In Summe stellt dieses Ortszentrum ein aufregendes Gegenbeispiel dar. Ein Platz, der von allen als Ortsmittelpunkt, als Treffpunkt wahrgenommen wird. Ein Ort, der das Gemeindeleben prägen wird. (Text für Mole#15/2014)